Arbeitsfelder

Was ist eigentlich Motorradfahrerseelsorge?

Muß denn die Kirche sich auch noch mit solchen Leuten abgeben?

Gäbe es nicht genügend andere und wichtigere Aufgaben?

Solche und noch härtere Anfragen werden mir oft entgegengehalten, wenn ich mit Menschen über meine Aufgaben im Bereich des Straßenverkehrs und im besonderen unter den Motorradfahrern spreche.

Gerade mit Motorradfahrern, die immer so laut und so temperamentvoll auftreten …

Und dann muß ich nach einer Weile feststellen, daß viele Vorurteile ausgesprochen werden, wenn es um diese Gruppe in unserer Gesellschaft und im Straßenverkehr geht. Man schreibt den Motorradfahrern alle möglichen Fehler im Straßenverkehr zu:

sie überholen in dritter Reihe neben dem Grünstreifen auf der Autobahn,

sie rasen in Pulks und erzeugen Angst,

sie sind lederbekleidet und jagen Menschen vom Bürgersteig herunter usw. usw.

So berichtete mir ein Geschäftsmann im besten Alter, „bewaffnet“ mit einem Sportauto, so getunt und bestückt, dass er nahe an 300 Stundenkilometer herankommt, wie er von einem Motorradfahrer bei Tempo 230 km/h „verfolgt“ wurde. Er hielt mir den Wahnsinn dieser Geschwindigkeit vor. Als dann der Motorradfahrer ihn überholt hatte, da hat er ordentlich Gas gegeben und seinerseits die „Verfolgung“ aufgenommen. Ich konnte angesichts dieser Verfolgungsjagd auf der Autobahn Richtung Fulda nur mit dem Kopf schütteln. Beide haben den normalen und menschenwürdigen Grenzbereich, die eigentlich erlaubte Toleranzgrenze, überschritten. Beide haben doch dazu beigetragen, dass Leben aufs Spiel gesetzt wurde. Ein Autofahrer hat auch nicht mehr Chancen bei den hohen Geschwindigkeiten, die wir erreichen können, sein Leben zu bewahren.

Die Kirche hat die Aufgabe, dem Leben zu dienen, Leben zu bewahren und sich dort einzuschalten, wo Leben gefährdet ist.

Dem Kampf auf der Straße muß eine Grenze gesetzt werden – nicht nur auf dem Weg des Gesetzes, der Strafe und der polizeilichen Überwachung, sondern auch und vor allem dadurch, daß das Randgruppendasein der Motorradfahrer unterlaufen wird.

Jeder hat seine Rolle, so auch der Motorradfahrer.

Er kann nicht nur mit hochtechnisierten Maschinen entlassen werden und allein gelassen werden, sondern er braucht seine Bestätigung und Anerkennung wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – vom Fußgänger bis zum Brummifahrer.

Nur so kann die Jagd nach dem ersten Platz auf der Straße unterbrochen werden. Oder ist es uns noch nicht bewußt, daß die Fahrt auf der Straße grundsätzlich für jeden lebensgefährlich ist? Ist uns noch nicht bewußt, daß wir für die schönen chrom- und plastikglänzenden Fahrzeuge in jedem Jahr eine Kleinstadt opfern?

Und wenn ich mir dann klarmache, daß die meisten der Fahrzeughalter CHRISTEN sind, dann merke ich, wie notwendig es ist, daß Kirche sich einschaltet.

Christsein im Straßenverkehr heißt ganz eindeutig und unmißverständlich:
DEFENSIV FAHREN, nachgeben, dem anderen den Vortritt lassen, Verzichten auf den ersten Platz.

Wir lassen doch sonst der Frau, dem Älteren den Vortritt, wenn wir ihnen persönlich an der Tür begegnen, warum jagen wir sie, wenn wir sie im Auto sehen oder sogar auf dem Motorrad?

Wir bringen doch unseren Kindern Höflichkeit bei, warum vergessen wir dieselbe im Auto, wenn wir auf dem Weg zur Arbeit sind?

Wir sollen doch alle sanfte Chefs sein und liebevolle Familienväter, aber sind nicht bereit, einen Bogen um einen Radfahrer zu machen?

Die Kirchliche Motorradfahrer-Arbeit, die von den Kirchenleitungen der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck und Hessen-Nassau getragen und unterstützt wird, möchte in diesem Lebensbereich mitwirken und in diesen Bereich einwirken.

Das wird auf vielfältige Weise, durch das „Anlassen der Maschinen“, der „Gendenkfahrt“ und weiteren Veranstaltungen getan.

Zwischen den Großveranstaltungen brauchen wir auch Zeiten der Besinnung und des Nachdenkens – ein Gottesdienst wird nicht vom Pfarrer allein vorbereitet, alle arbeiten an allen Texten mit. Ohne die Gespräche käme ich auf viele Gedanken und Inhalte nicht, wir brauchen einander, um das Wort der Kirche und aus dem Glauben heraus zu formulieren und in Anspielen darzustellen. – Vor einigen Jahren, Anfang Juni, waren wir mit einer Gruppe von Motorradfahrern in Taize und haben dort eine Woche verbracht. Wir werden nicht das letzte Mal dort gewesen sein.

Ruprecht Müller-Schiemann